Psychische Gesundheit am Arbeitsplatz – wie sich persönliche Ressourcen stärken lassen
Die Zahl der seelischen Leiden und Verhaltensstörungen unter Erwerbstätigen ist in den letzten Jahrzehnten rasant angestiegen. Wie aus dem 2018 verabschiedeten Bericht „Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit“ der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) hervorgeht, gingen in Deutschland im Jahr 2017 allein 107 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage auf das Konto psychischer Erkrankungen. Nur Beschwerden im Muskel-Skelett-System waren für noch mehr Fehlzeiten verantwortlich. Psychische Krankheiten verursachen nicht nur einen hohen volkswirtschaftlichen Verlust – der Bericht spricht von 12,2 Milliarden Euro Produktionsausfallkosten für 2017 –, sondern können auch die Lebensqualität Betroffener und ihrer Angehörigen erheblich beeinträchtigen. Immer mehr Menschen gehen aufgrund andauernder Erschöpfungszustände und Depressionen in Frührente.
Wie ist diese beunruhigende Entwicklung zu erklären? Ist „Burn-out“ eine Modeerscheinung? Oder lassen sich im modernen Berufsalltag spezifische Faktoren ausmachen, die die Psyche schädigen? „Der Anstieg der psychischen Beschwerden muss ernst genommen werden“, sagt Dr. Katrin Göthe, Diplom-Psychologin und betriebliche Gesundheitsmanagerin aus Potsdam. „Unsere Arbeitswelt hat sich stark gewandelt. Die Arbeitsintensität hat sich erhöht, aber auch die Inhalte haben sich verändert. Die meisten von uns arbeiten nicht mehr körperlich, sondern sind reine Kopfarbeiter geworden. Daher ist es nötig, einen Ausgleich zu schaffen.“ Ähnliches stellt Marina Diané, Gesundheitsmanagerin und Geschäftsführerin von Business Health, fest: „Die Strukturen der heutigen Arbeitswelt und ihr Effizienz-Gedanke entsprechen nicht der Weise, wie unsere Gehirne und Körper funktionieren. An eintöniges Arbeiten ohne Abwechslung und Bewegung sind wir evolutionsbiologisch nicht angepasst. Das kann auf Dauer der Gesundheit schaden.“
Dabei sind die Expertinnen der Ansicht, dass das Berufsleben nicht per se als belastend erlebt werden muss. Im Gegenteil: „Arbeit kann krank machen, sie kann aber auch eine unglaubliche Ressource sein“, so Katrin Göthe. „Wir brauchen Arbeit, um gesund zu bleiben“, führt Marina Diané aus. „Denn wir brauchen Sinn im Leben, wir müssen uns nützlich fühlen. Wenn der Berufsalltag richtig gestaltet wird, ist Arbeit erfüllend und macht uns glücklich.“ Welche Faktoren sind es, die sich positiv auf die psychische Gesundheit auswirken? Darauf gibt der „Fehlzeiten- Report 2018“ des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) Antwort, für den über 2.000 Erwerbstätige zum Thema „Sinn erleben – Arbeit und Gesundheit“ befragt wurden. Für weit über 90 Prozent der Beschäftigten waren ein gutes Verhältnis zu Kollegen und Vorgesetzten sowie das Gefühl, einer sinnstiftenden Tätigkeit nachzugehen und die eigenen Fähigkeiten einbringen zu können, am wichtigsten. „Oft noch entscheidender als die Bezahlung sind sogenannte weiche Faktoren“, bestätigt Diané. „Ein kommunikatives und wertschätzendes Betriebsklima trägt maßgeblich zur Arbeitszufriedenheit bei. Als Arbeitnehmer brauchen wir Klarheit über die gemeinsamen Ziele im Unternehmen und müssen zudem den Eindruck haben, auf unsere eigene Situation Einfluss nehmen zu können.“
Das klingt in der Theorie gut, doch wie muss der Berufsalltag konkret gestaltet sein, damit sich Arbeitnehmer wohlfühlen, weniger unter Stress leiden und ihre Arbeit positiv erleben? „Dafür ist ein Zusammenspiel von verschiedenen Faktoren notwendig. Man spricht hier von Verhältnisprävention und Verhaltensprävention: Verhältnisprävention bezieht sich auf die Rahmenbedingungen, die von Unternehmensseite hergestellt werden müssen, wie die klare Regelung von Arbeits- und Pausenzeiten sowie die Durchführung von Gefährdungsbeurteilungen. Das heißt, Führungskräfte müssen Mitarbeiter regelmäßig dazu befragen, wie sie mit dem Arbeitspensum zurechtkommen und ob sie sich ausreichend wertgeschätzt fühlen. Die Verhaltensprävention setzt am Arbeitnehmer an, beispielsweise mit Achtsamkeits-Kursen, die die eigenen Ressourcen stärken und die individuelle Belastbarkeit erhöhen“, erklärt Diplom-Psychologin Göthe. „Der Arbeitgeber sollte erlauben, dass man einen Spielraum zur individuellen Gestaltung hat, und der Arbeitnehmer steht in der Selbstverantwortung, diese Möglichkeiten entsprechend seinen Bedürfnissen zu nutzen“, fasst Marina Diané zusammen.
Als Beispiel lassen sich die Chancen und Gefahren der Digitalisierung nennen: „Die Digitalisierung sorgt für eine Flexibilisierung der Arbeitswelt, was an sich eine gute Sache ist. Von zu Hause aus zu arbeiten kann die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichtern. Allerdings darf hier keine Entgrenzung stattfinden: Es muss klare Vorgaben von Arbeitgeberseite geben, zu welchen Zeiten E-Mails abgerufen werden müssen und zu welchen nicht“, stellt Dr. Göthe klar. Und auch die Beschäftigten müssen nach Ansicht der Expertinnen darauf achten, den Verlockungen der ständigen Erreichbarkeit zu widerstehen: „Die Digitalisierung lädt uns dazu ein, dauernd unsere Mails zu checken. Hier müssen Arbeitnehmer auch für sich selbst Grenzen setzen und diese einhalten“, rät Marina Diané.
Was können Arbeitnehmer noch tun, um ihre psychische Gesundheit am Arbeitsplatz zu erhalten und widerstandsfähiger gegen Stress zu werden? „Bewegung hilft sehr dabei, den Kopf frei zu bekommen und Stresshormone abzubauen. Sport kann antidepressiv wirken und sogar unsere Denkleistung verbessern“, sagt Katrin Göthe. Ein weiterer Tipp der Psychologin: „Damit Auszeiten auch wirklich genommen werden, sollte man sie fest im Terminkalender einplanen.“ Und wie sieht es mit speziellen Anti-Stress-Kursen aus? „In Stressmanagement-Kursen lernt man, seine Grenzen wahrzunehmen und sich bewusst zu machen, welche konkreten Situationen es sind, die einen Energie kosten, und wie man sie mit seiner Persönlichkeit beeinflusst“, erklärt Marina Diané. „Es gibt unterschiedliche Methoden, hier anzusetzen. Jeder sollte ausprobieren, was sich für ihn gut anfühlt und was sich in stressigen Situationen in den eigenen Berufsalltag integrieren lässt. Das können schon ganz einfache Maßnahmen sein, die für andere gar nicht sichtbar sind, wie Atemtechniken oder die Konzentration auf eine Farbe“, erläutert die Expertin. „Wenn man für sich drei passende Methoden gefunden hat und diese mit Unterstützung des Unternehmens regelmäßig anwendet, hat man gemeinsam einen großen Schritt in Richtung psychische Gesundheit am Arbeitsplatz getan.“
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